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Grossfamilientreffen

  • Writer: eve
    eve
  • Apr 16, 2023
  • 3 min read

Die einen lieben sie – die anderen hassen sie.


Kürzlich hat mir eine gute Bekannte ihren Freund vorgestellt, mit dem Zusatz er sei der Bruder von X. Meine Bekannte hatte den Satz noch gar nicht zu Ende gesprochen, da kam wie aus der Pistole geschossen der Zusatz von ihrem Freund: „Wir sind verwandt, aber wir haben nichts gemeinsam!“. Ohne Hellseher zu sein, würde ich diesen Zeitgenossen eher zur Fraktion derer zählen, für die Corona und die von der Politik beschlossenen Kontaktbeschränkungen eine der besten Entscheidungen seit langem waren.


Gut, dass meine Oma das nicht mehr erleben musste. Mit eiserner Hand führte sie früher das Regiment bei unseren Großfamilientreffen. Dass jemand krank war, zählte nicht als Entschuldigung. Der Betroffene verteilte seine Viren munter unter der Verwandtschaft. Manchmal fühlte man sich nach so einem Treffen auch nicht besser als mit Corona. Auf die Wirtschaft hatte das seinerzeit keine Auswirkungen, denn krankschreiben ließ man sich als Arbeitnehmer damals nur, wenn man wirklich einen Grund hatte. Ein kardiologischer Notfall, der einen an ein Krankenhausbett fesselte, war vielleicht so einer. Der Rest ging selbstverständlich in die Arbeit. Und so hätte man sich das viele Geld für aufwendige Studien über die Verbreitung von Sars-Cov-2 sparen können. Man hätte einfach uns fragen können, warum zwei Wochen nach unserem Familientreffen die ganze 8.000-Einwohner- Gemeinde den Husten meines Onkels Hermann hatte. Auch ich schlage in Sachen Großfamilie etwas aus der Art. Mir wird bei zu hohem Zuckerkonsum übel und ich muss mich übergeben. „Da stimmt doch was nicht mit diesem Kind!“ Wenn ich Glück hatte, saß ich neben einem großen Blumentopf, in dem ich den überschüssigen Zucker unbemerkt entsorgen konnte. Wurde mir davon nicht übel, so sorgte die Situation an sich dafür, sich zunehmend unwohl zu fühlen. Bei 30 Personen auf 20 qm Wohnfläche wäre nach zwei Stunden jedes CO2- Messgerät explodiert, hätte es so etwas damals schon gegeben. Wem das nicht reichte, der musste nur warten, bis Oma’s Geißbock Vitor, wie bei jedem Familientreffen, von irgendeinem Teilnehmer auf illegale Weise aus seinem Stall freigelassen wurde und sich prompt seinen Weg mitten in die Menge auf den Tisch bahnte, um dort die Sahne von der Torte zu schlecken. Eine gefühlte Ewigkeit später, nachdem die ganze Menge erfolglos auf den Geißbock eingeredet hatte, er solle doch wieder in seinen Stall zurück gehen, erbarmte sich irgendwer, um das Tier wieder dorthin zu bringen, wo es hingehörte. Der Raumduft, der nun endgültig vorherrschte, was soll ich sagen...

Mein Vater und seine Brüder hatten den Standpunkt, dass man nie als letzter heimgehen sollte, denn dann konnte nicht über einen gelästert werden. Diesen Standpunkt hatten wohl viele Familienväter in bayerischen Großfamilien. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum das Kultusministerium neben den Weihnachts-, Pfingst- und Osterferien in Bayern auch noch die Herbstferien eingeführt hat. Die Kinder sind nach dem Allerheiligen-Treffen der Familie für den Rest der Woche zu nichts mehr zu gebrauchen. Meinen Mann hat es noch schlimmer erwischt als mich. Er ist in einem oberbayerischen Traditionsgasthof groß geworden. Um eine Eigenschaft, die er aus dieser Zeit mitgenommen hat, beneide ich ihn. Er schläft in jeder erdenklichen Position und je lauter es um ihn herum ist, umso tiefer sinkt er in den Schlaf. Woran das wohl liegt? Uns verbindet allerdings das Trauma der großen Menschenmenge in unserem engsten Umfeld. Und so bekommen wir schon Schweißausbrüche und Panikattacken, wenn nur jemand ankündigt, uns besuchen zu wollen.


Unsere Tochter wächst als Einzelkind in einer sehr geordneten und ruhigen Umgebung auf. Bis jetzt schätzt sie das nach eigener Aussage sehr. Ob sie, wenn sie erwachsen ist, ihre Erfahrungen aus der Kindheit auch als Trauma ansieht und wir uns im hohen Alter doch noch einmal mitten in der Großfamilie wieder finden? Wer weiß? Ich melde mich schon heute freiwillig, den Geißbock wieder in den Stall zu bringen.

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